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Exhibition
25.05.2013 - 29.06.2013
Madeleine Boschan

Anwesenheit unerreichbarer Bezugspunkte

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Press release

There is more than a difference of degree between

being short – short of the world, short of self –, and

being without these esteemed commodities.

The one is a predicament, the other not

Samuel Beckett

 

Galerie Bernd Kugler is outstandingly happy to present the second solo exhibition of Madeleine Boschan in Innsbruck.

In the last years, Madeleine Boschan has extensively occupied herself with the television work and the late »closed space stories« of Samuel Beckett from which almost a whole poetics of space can be deduced: space ›itself‹ is empty and incomprehensible. Only when a body appears designating its particular place, the void assumes contour, form, shape, and can be experienced as surrounding space in the strict sense. It is for the bodies present to formulate space, or for the bodies absent to let the void reappear.

Therefore, experience of space is quite fundamentally a physical experience; a fact profoundly integrated in Boschan’s own sculptural questions: how does a body gain halt and stand within the void, how does it establish its appropriate place and hold it up, how does it connect itself with other bodies and places?

She combines these questions with Jacques Lacan’s »objet petit a«. According to Lacan, the human being is always incomplete, a deficient being, and the object petite a, whatever it may be, constitutes the drive of all human actions to overcome this defect, to close the subject-cleavage. However, as an imaginary object it always remains unattainable, it eludes continually, it ›lacks‹. The tension between permanent loss and the desire for wholeness is not to be repealed.

Hence, Madeleine Boschan transfers this ambivalent ›presence of unavailable terms‹ and references onto her most recent ensemble of ceiling and floor pieces, specifically conceived for Innsbruck:

Two sculptures (Rager) break through the ceiling and stretch far into the exhibition space. These delicate structures in stealth-gray defy gravity in a kind of graphic »upward stagger« (Gilles Deleuze). Like probes they seekingly traverse the space. They are equipped with all kinds of technical apparatuses – optical and cartographic devices, a compass and a plummet, pieces of fanned blinds – as if they were continuously collecting real-space data. In addition, both Rager exhibit in their cores a white porcelain baton in the form of a neon light capped with a plug.

Opposed to them, five white sculptures (Steler) are asymmetrically distributed on the floor. These narrow mounts straighten up robustly also carrying white batons atop. But unlike their china counterparts they are actual, electrified neon lights capable of illuminating.

The light batons represent the living, current flow of energy and – for the life span of the bulbs – are, consequently, measure instruments for the time given and its passing. In contrast, the porcelain batons of the Rager are beyond such references to time and the present. In them, the transient flow of energy has turned into an supratemporal presence paradoxically detached from life.

As opposing poles Rager and Steler each possess what the other lacks. However, as complementary conceptions of being both sides are intrinsically tied to each other and interrelated: the dormant, cooled down form no longer subjected to time’s passing and the pulsating, finite energy flow emitting light signals.

Thus in the exhibition space, the beholders find themselves amidst this intertwined constellation, precisely at the intersection of this interminable circulation, being gripped by searching and apparent finding, by having and not-having, by desire and loss.

The exhibition is accompanied by a catalogue with an essay by Norbert Haas, editor of the writings of Jacques Lacan, addressing the »objet petit a« and its role in the work of Madeleine Boschan.

Madeleine Boschan, born 1979, lives and works in Berlin. After having participated in numerous group exhibitions throughout Europe and North America, Kunstverein Ulm will present her first institutional solo exhibition in autumn 2013 (September 8 – November 3).

 

Pressetext

Es gibt da mehr als nur einen Gradunterschied zwischen

Mangel leiden – Mangel an Welt, Mangel an eigenem Selbst – und

ganz ohne diese geschätzten Artikel des täglichen Gebrauchs zu sein.

Das eine ist eine sehr missliche Lage, das andere nicht

Samuel Beckett


Die Galerie Bernd Kugler freut sich außerordentlich, die zweite Einzelausstellung von Madeleine Boschan in Innsbruck zu präsentieren.

In den vergangenen Jahren hat sich Madeleine Boschan eingehend mit den Fernseharbeiten Samuel Becketts sowie mit seinen späten »closed space stories« auseinandergesetzt, aus welchen sich geradezu eine Poetologie des Raumes entwickeln lässt: ›Der‹ Raum selbst ist leer und unfassbar. Erst wenn in dieser Leere ein Körper erscheint und sich so ein Ort benennen lässt, nimmt sie Kontur, Form, Gestalt an und wird als umgebender Raum im eigentlichen Sinn erfahrbar. Es sind die anwesenden Körper, die den Raum formulieren, oder die abwesenden, die die Leere wieder aufscheinen lassen.

Raumerfahrung ist demzufolge ganz grundsätzlich körperliche Erfahrung, was Boschan in ihren eigenen bildhauerischen Fragen aufnimmt: wie findet ein Körper Halt und Stand in der Leere, wie findet er einen ihm gemäßen Ort und hält diesen aufrecht, wie verbindet er sich mit anderen Körpern und Orten?

Diese Fragen verknüpft sie mit Jacques Lacans »Objekt klein a«. Nach Lacan ist der Mensch immer unvollständig, ein Mangelwesen, und das Objekt klein a, was immer es auch sei, der Antrieb aller menschlichen Handlungen, um diesen Mangel, die Spaltung im Subjekt zu schließen. Allerdings bleibt es als imaginäres stets unerreichbar, es entzieht sich fortwährend, fehlt. Die Spannung von permanentem Verlust und dem Begehren nach idealer Ganzheit ist nicht aufzuheben.

Diese vielgestaltige, ambivalente »Anwesenheit unerreichbarer Bezugspunkte« überträgt Madeleine Boschan nun auf ihr aktuelles, für Innsbruck entstandenes Ensemble aus Decken- und Bodenarbeiten:

Zwei Plastiken (Rager) durchbrechen die Decke und greifen weit in den Ausstellungsraum aus. Diese filigranen, in tarnfarbenem Grau gefassten Konstruktionen trotzen in einer Art von grafischem »Taumel nach oben« (Gilles Deleuze) der Schwerkraft. Wie Sonden durchmessen sie suchend den Raum. Ausgestattet sind sie mit allerlei technischem Gerät – optischen und kartografischen Vorrichtungen, einem Kompass und einem Lot, Stücken aufgefächerter Jalousien –, so als sammelten sie kontinuierlich Raumdata. Zudem trägen beide Rager in ihrem Zentrum einen weißen Stab aus Porzellan in Form eines mit einem Stecker gesockelten Neonlichts.

Ihnen sind fünf weiße, asymmetrisch im Raum verteilte Plastiken (Steler) entgegengestellt. Robust richten sich diese schmalen Gestelle auf und tragen zuoberst ebenfalls weiße Stäbe. Im Gegensatz zu ihren porzellanenen Pendants sind diese allerdings elektrifiziert und besitzen mit tatsächlichen Neonlichtern das Vermögen zu leuchten.

Die Lichtstäbe verkörpern den lebendigen, gegenwärtigen Fluss von Energie und – für die Lebensdauer der Leuchtmittel – als Messinstrumente die gegebene Zeit und ihr Vergehen. Diesem Zeit- und Gegenwartsbezug sind die Porzellanstäbe der Rager enthoben. In ihnen hat sich der vergängliche Energiefluss in überzeitliche, paradoxerweise ›lebensferne‹ Anwesenheit verwandelt.

Als einander entgegengesetzte Pole besitzen Rager und Steler je das, was dem anderen fehlt. Doch wie komplementäre Daseinsentwürfe sind beide Seiten untrennbar verbunden und aufeinander bezogen: ruhende, erkaltete, der Zeit nicht länger unterworfene Form und Lichtzeichen aussendender, pulsierender, endlicher Energiefluss.

Als Betrachter befindet man sich im Ausstellungsraum inmitten dieser ineinander verschränkten Konstellation, genau am Knotenpunkt der unabschließbaren Zirkulation, und wird selbst vom Suchen und scheinbaren Finden, vom Haben und Nicht-Haben, vom Begehren und Verlust erfasst.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit einem Text von Norbert Haas, Herausgeber der Schriften von Jacques Lacan, zum »Objekt klein a« und dessen Rolle im Werk von Madeleine Boschan.

Madeleine Boschan, geboren 1979, lebt und arbeitet in Berlin. Nachdem sie in den vergangenen Jahren an zahlreichen Gruppenausstellungen in Europa und Nordamerika teilgenommen hat, wird der Kunstverein Ulm im Herbst 2013 ihre erste institutionelle Einzelausstellung präsentieren (8. September – 3. November 2013).