Maryon Park
Pressetext
Realität? Welche? Zur Befragung von Realität in den
Arbeiten von Alicja Kwade
Einen Schritt hinter die Kulissen tun, einmal ganz naiv
nachsehen, was das eigentlich ist und bedeutet, das uns
täglich umgibt und sich mit dem simplen aber eben doch
nicht ganz selbstverständlichen Begriff der „Realität“
schmückt? Ohne sich in die Mühlen eines wissenschaftlichtheoretischen
Diskurses zu begeben, sucht Alicja Kwade in
ihren Arbeiten nach einfachen, fast alltäglichen
Möglichkeiten, der Erkenntnis der Realität auf die Spur
zu kommen. Sie bedient sich dabei der paradoxen Qualität
der Medien Fotografie, Film und Zeitung, die durch
schlichte Auswahl und technische Transformation Realität
zwar sekundär vermitteln, dank ihrer (visuellen)
Überzeugungskraft und dem Ideal der Objektivität und
Wahrheit, das noch immer mit ihnen verbunden wird, dieses
sekundäre Erleben als etwas Primäres etablieren können.
Die Frage, wann etwas real ist und wie diese
Realität wahrgenommen wird, untersucht Kwade zunächst in
einer Serie von Zeitungsausschnitten, die sorgfältig
gerahmt, tagesaktuelle Informationen zu präsentieren
scheinen. Bei näherer Betrachtung offenbart sich in ihrem
inhaltlich wie materiell fragmentarischen Charakter oder
in Schlagzeilen wie „I Spend The Night With Superman“
jedoch ihr eigentliches Gesicht. Was sich da so echt und
bedeutungsvoll im Kleid einer Zeitung präsentiert, ist im
doppelten Sinne fiktiver Natur: Als Filmrequisite auf der
Basis einer fiktiven Handlung verfasst, verliehen diese
Zeitungen der filmischen Wirklichkeit mittels ihrer
Glaubwürdigkeit Nachdruck. Indem Kwade die Zeitungs- und
Zeitschriftenartikel aus dem filmischen Material
exzerpiert und sie auf zeitungsähnlichem Papier
ausdruckt, überführt sie sie wieder in eine dinghafte
Materialität und Realität, die nun ihrerseits der Fiktion
Wirklichkeit verleiht.
Während die rationale Trennung der unterschiedlichen
Realitätsebenen am Beispiel der Zeitung dank des Texts
noch nachvollziehbar ist, bietet die Fotografie diese
Möglichkeit nicht mehr. So kann es passieren, dass man
sich in einer Serie von 13 schwarz-weiß Fotografien mit
einem Kriminalfall konfrontiert sieht, den die Künstlerin
mit der Kamera verfolgt zu haben scheint. Dabei beginnt
die Geschichte durchaus harmlos: Ein Liebespaar, das sich
unbeobachtet glaubt, tollt verliebt durch einen Park. Als
sie die Fotografin bemerkt, protestiert die Frau empört.
Den Grund für diese Reaktion meint man in den folgenden
Bildern zu entdecken: Einen Schützen im Gebüsch und eine
Leiche hinter einem Baum. Doch ist es tatsächlich so? Die
Qualität der Bilder ist schlecht, letzte Sicherheit geben
sie nicht.
Für den Filmkenner stellt sich diese Szene dagegen
anders dar. Er erkennt sie als Bilder, die der junge
Fotograf Thomas in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“
(1966) im Maryon Park in London aufgenommen hat. Nach
einer kurzen Auseinandersetzung mit der Frau, die
versucht, ihm den Apparat zu entreißen, geht Thomas in
sein Studio zurück, um den Film zu entwickeln. Nach
mehrfachem Vergrößern glaubt er, auf den Bildern einen
Mord zu entdecken. Thomas’ suchenden Blick aufnehmend,
führt Antonioni den BetrachterInnen die Fotos
leinwandgroß vor, verbirgt keine Information und
demonstriert doch, dass in der Körnung des fotografischen
Abzugs kaum mehr als Schatten sichtbar sind, die sich
einer eindeutigen Interpretation verweigern. Indem
Antonioni nach und nach alle „realen“ Indizien
verschwinden und den Fall so im Ungewissen lässt,
demonstriert er die Unzulänglichkeit der Fotografie als
Abbild von Wirklichkeit. Wie viele Künstler in dieser
Zeit, bewegt er sich damit in einem medientheoretischen
Diskurs, in dem der Realitätsbegriff des technisch
erzeugten Bildes verhandelt wurde, wobei der Aspekt
seines bloß vermittelnden Charakters dabei im Vordergrund
stand.
Der Titel „Maryon Park“ der Ausstellung Alicja
Kwades kann in diesem Sinne zugleich als Hinweis auf
deren Gegenstand wie auch als Programm verstanden werden.
Die Fotografien hat Kwade in dem gleichen tautologischen
Verfahren wie zuvor bei den Zeitungsausschnitten aus
Antonionis Film exzerpiert und auf Fotopapier
ausgedruckt. Die Künstlerin wiederholt dabei den
eigentlichen fotografischen Prozess der Auswahl und
Fragmentierung. Vorlage ihrer „Fotografien“ bildet jedoch
nicht die anschauliche Wirklichkeit, sondern die Fiktion
des Films. Die dort angesprochene Vermitteltheit der
Realitätserfahrung durch das Medium der Fotografie
erfährt in der Rematerialisierung des fotografischen
Abbilds eine weitere Steigerung: Das Foto, obwohl jetzt
tatsächlich Bestandteil unserer Erlebniswirklichkeit,
exponiert seine dreifach vermittelte Realität in der
grobkörnigen, sich einer präzisen Erfassung sperrenden
Ästhetik sowie in einer manchmal leicht verzerrten
Perspektive und konterkariert so seinen alten Anspruch
auf Authentizität quasi in sich selbst.
Hinter diesem Vorgang steht aber nicht nur ein
medien- oder wahrnehmungskritischer Ansatz, wie er die
Kunst der sechziger und siebziger Jahre maßgeblich
prägte. Vielmehr verschafft die Künstlerin der fiktiven
Realität des filmischen Fotos durch seine Übertragung in
die dinghafte Realität eine neue Gültigkeit und stellt
fest, dass sich die Realität eines technisch produzierten
Bildes längst nicht mehr von unserer Lebenswirklichkeit
trennen lässt, sondern in ein symbiotisches Verhältnis zu
ihr getreten ist. Nicht die Autonomie unterschiedlicher
Realitäten, sondern ihre Entgrenzung und Verzahnung
bedingen unsere rational- sowie emotional-transzendente
Erkenntnis der Realität.
Wie eine Bestätigung dieser These liest sich
schließlich die letzte, die Reihe abschließende
Fotografie, die Kwade am ehemaligen Drehort im Maryon
Park aufgenommen hat. Formal setzt sich das Bild nach der
Natur vor allem in seiner Farbigkeit von den anderen ab
und suggeriert maximale Glaubwürdigkeit. Die Wahl des
Ausschnitts ist dagegen so getroffen, dass zu den Film-
Fotos ein unmittelbarer Vergleich gezogen werden kann,
der jedoch wenig spektakulär ausfällt: Seit den
Filmaufnahmen hat sich kaum etwas verändert, die Bäume
sind ein bisschen höher, die Büsche ein bisschen dichter,
sonst nichts. Die fast schon gepflegte Langeweile, mit
der sich diese materielle Bestandsaufnahme äußert, zeigt,
dass es um anderes geht, um den künstlerischen Blick
selbst nämlich, und darum, wie er sich dieser Szenerie
nähert: Was zunächst unbefangen, direkt, gar autonom
anmutet, entpuppt sich als geprägt und gerichtet durch
die mehrfach vermittelte Realität des filmischen Blicks.
Dennoch: Der Park, wenn auch nur fragmentarisch
abgebildet, bleibt dabei doch Park und somit ein Stück
„zuverlässiger Schein“ in unserer Realitätserkenntnis.
Doris Mampe